Die Gefahr, dass der Computer so wird wie der Mensch, ist nicht so groß wie die Gefahr, dass der Mensch so wird wie der Computer.“ (Konrad Zuse)
Wer in den 1990ern ein Tamagotchi besaß, erinnert sich vielleicht: Mitten in der Nacht piepte das kleine Ei unerbittlich, weil es Hunger hatte oder Aufmerksamkeit wollte. Millionen Kinder und Erwachsene sprangen damals aus dem Bett, um ein digitales Wesen zu füttern, das weder einen Magen noch Gefühle hatte – und behandelten es doch wie ein Lebewesen.
So absurd es klingt: Diese Fürsorge ist kein Einzelfall, sondern steht in einer langen Tradition. Menschen haben schon immer die Neigung gezeigt, Maschinen und Objekten menschliche Eigenschaften zuzuschreiben. Wir reden mit Autos, die nicht anspringen wollen, schimpfen mit dem Computer oder bedanken uns bei Siri. Die Geschichte dieser Vermenschlichung von Technik reicht weit zurück – und erzählt mindestens so viel über uns selbst wie über die Maschinen.
Erste Wunderwerke: Automaten und sprechende Maschinen
Bereits im 18. Jahrhundert begeisterten mechanische Automaten die Gesellschaft. Der berühmte „Schachtürke“, ein angeblich selbstständig Schach spielender Apparat, oder die Schreibautomaten von Jacques de Vaucanson wirkten, als ob sie denken könnten. Auch wenn es oft raffinierte Täuschungen waren, faszinierte die Vorstellung, eine Maschine könne wie ein Mensch handeln. Einen weiteren Sprung markierte Thomas Edisons Phonograph von 1877: Zum ersten Mal ertönte eine menschliche Stimme aus einem Gerät. Für viele klang das unheimlich – ein Stück Technik, das sprechen konnte, als sei es belebt. Später, im 20. Jahrhundert, wurde die automatische Zeitansage am Telefon zum alltäglichen Begleiter. Der „Damenstimme“ am Apparat wurden Charakterzüge zugeschrieben – freundlich, streng oder sachlich –, obwohl sie nichts weiter als eine Aufnahme war.
Stimmen, Knöpfe, Gefühle: Interaktion im Alltag
In den 1960er-Jahren hielten sprechende Puppen Einzug ins Kinderzimmer. Sie gaben Kindern nicht nur eine Stimme zum Spielen, sondern auch ein Gegenüber, das Gefühle hervorrief. Auch wenn die Batterie-Klappe im Rücken des Spielzeugs durchaus ambivalente Gefühle hervorrief. Noch deutlicher zeigte sich dieser Effekt in den 1990er-Jahren: Mit dem Tamagotchi entstand ein digitales Haustier, das gehegt und gepflegt werden musste. Millionen Menschen entwickelten emotionale Bindungen zu einem Display mit wenigen Pixeln. Parallel dazu wurden Computer durch grafische Benutzeroberflächen und Spiele wie Text-Adventures zu interaktiven Partnern. Technik war nicht mehr nur Werkzeug, sondern konnte eine Art soziales Gegenüber darstellen.
Von Siri bis Alexa: Sprache als Schnittstelle
2011 betrat mit Siri eine neue Akteurin die Bühne: Zum ersten Mal konnten Nutzer*innen ihr Smartphone direkt ansprechen – und bekamen eine freundliche, manchmal witzige Antwort. Schnell zeigte sich: Sie bedankten sich höflich, ärgerten sich über Missverständnisse oder versuchten, Smalltalk zu führen. Mit Alexa, Google Assistant und anderen Sprachassistenten wurde diese Form der Interaktion alltäglich. Technik bekam eine Stimme – und damit schrieben wir ihr automatisch auch eine Persönlichkeit zu.
Soziale Roboter und virtuelle Begleiter
In den letzten Jahren ging die Entwicklung weiter. Roboter wie „Paro“, eine kuschelige Robbe für die Altenpflege, oder der humanoide „Pepper“ wurden gezielt so gestaltet, dass sie Nähe suggerieren und Emotionen hervorrufen. Chatbots wie Replika oder KI-Systeme, die auf Sprachmodellen basieren, werden inzwischen als Gesprächspartner erlebt – nicht nur für Informationen, sondern auch für Trost, Zuspruch oder kreative Zusammenarbeit.
Damit verschwimmen die Grenzen zwischen Werkzeug und Beziehungspartner. Für manche sind solche Systeme hilfreiche Assistenten, für andere fast virtuelle Freunde. Und zugleich bleibt die Irritation: Wie „echt“ kann ein Gespräch mit einer Maschine sein?
KI-Systeme: Gesprächspartner oder Spiegel?
Mit den neuesten KI-Systemen kommt eine neue Qualität hinzu. Sprachassistenten wie Siri oder Alexa reagierten noch recht starr auf Befehle. Große Sprachmodelle wie ChatGPT hingegen sind darauf ausgelegt, im Dialog zu bleiben. Sie hören nicht einfach auf, wenn unsere Frage beantwortet ist, sondern schlagen Themen vor, fragen zurück oder bauen Erklärungen aus. Das verändert die Dynamik: Wir erleben weniger eine Maschine, die „auf Knopfdruck“ funktioniert, sondern ein Gegenüber, das sich wie ein Gesprächspartner verhält.
Warum wir Technik vermenschlichen
Dass wir Maschinen Eigenschaften oder sogar Gefühle zuschreiben, ist tief in uns angelegt. Unser Gehirn ist von Natur aus darauf trainiert, soziale Signale wie Gesichter, Stimmen und Bewegungen zu erkennen – oft auch dort, wo keine sind. Dieses „soziale Radar“ war in der Evolution überlebenswichtig: Lieber einmal zu oft eine Absicht vermuten als einmal zu wenig. Technik nutzt genau diesen Reflex. Eine freundliche Stimme aus dem Lautsprecher oder das Piepen eines Tamagotchis reichen aus, damit wir Zuwendung, Hilflosigkeit oder Persönlichkeit hineininterpretieren. Popkulturelle Erzählungen – von Pinocchio bis zu Science-Fiction-Filmen – verstärken zusätzlich die Vorstellung, Maschinen könnten potenzielle Partner*innen sein. Doch je menschenähnlicher Maschinen wirken, desto stärker schwankt unsere Reaktion zwischen Nähe und Unbehagen.
Gegenwart und Ausblick
Heute sind Mensch-Maschine-Interaktionen komplexer als je zuvor. Wir sprechen mit Chatbots, lassen uns Musikempfehlungen geben oder diskutieren mit digitalen Assistenten. Autos reagieren auf Sprachbefehle, Kühlschränke schlagen Rezepte vor, und manche Menschen führen lange Gespräche mit KI-Systemen.
Die entscheidende Frage ist daher nicht, ob wir Maschinen vermenschlichen, sondern wie bewusst wir es tun. Denn nur wenn wir verstehen, welche Mechanismen uns dazu bringen, Technik als sozialen Partner zu erleben, können wir souverän mit dieser Tendenz umgehen.
Das stellt uns als Gesellschaft vor neue Anforderungen: Wir brauchen technologische Kompetenz, um Funktionsweise und Grenzen von KI-Systemen zu verstehen; kritische Reflexionskompetenz, um Projektionen von Realität unterscheiden zu können; ethische Kompetenz, um die Gestaltung und den Einsatz von KI verantwortungsvoll zu steuern; und nicht zuletzt soziale Kompetenz, um zu bewahren, dass echte zwischenmenschliche Beziehungen nicht durch Technik ersetzt werden.
Vielleicht ist es deshalb die wichtigste Frage unserer Zeit: Welche Fähigkeiten müssen wir entwickeln, um in einer Welt, in der Maschinen immer menschlicher erscheinen, selbst menschlich zu bleiben?
von Nina Voborsky



