Digitaler Kolonialismus, globale Gerechtigkeit und Künstliche Intelligenz

Künstliche Intelligenz (KI) gilt als Symbol des technologischen Fortschritts. Sie verspricht Effizienz, Objektivität und Innovation. Doch unter der glänzenden Oberfläche verbergen sich tiefgreifende globale Ungleichheiten. KI ist nicht nur ein technisches Werkzeug, sondern auch ein Spiegel gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Besonders aus globaler Perspektive zeigt sich: Die Digitalisierung reproduziert und verschärft bestehende Abhängigkeiten.

Mit dem Begriff des digitalen Kolonialismus sind im Kern Abhängigkeiten und Ausbeutungsstrukturen gemeint, die bestehende globale Machtverhältnisse in der digitalen Welt manifestieren und verstärken. Der Einsatz von KI hat nicht nur Auswirkungen auf soziale Ungleichheit, sondern auch auf Umwelt und Klima – etwa durch den enormen Energieverbrauch von Rechenzentren oder den Wasserbedarf zur Kühlung – sowie auf die Lebenswirklichkeit derjenigen, die unter hohem Druck, schlechter Bezahlung und hoher psychischer Belastung kritische Inhalte beim Training von KI-Systemen prüfen.

Dieser Beitrag beleuchtet die Mechanismen und Hintergründe, die dazu beitragen, dass KI von uns genutzt werden kann, während sie zugleich neo-koloniale Strukturen im digitalen Raum abbildet. Besonders für Bildungsarbeit ist es wichtig, diese Dynamiken zu verstehen: Sie fördert kritisches Denken und zeigt auf, wie eng technische Innovationen mit sozialen und globalen Machtverhältnissen verflochten sind.

Was ist digitaler Kolonialismus?

Digitaler Kolonialismus bezeichnet die Fortführung und Stabilisierung kolonialer Machtverhältnisse in der digitalen Welt. Dabei stehen nicht nur neue Technologien im Mittelpunkt, sondern auch alte Muster von Abhängigkeit, Kontrolle und Ausbeutung, die unter digitalen Vorzeichen reproduziert werden.

Im Zentrum stehen asymmetrische Beziehungen zwischen Tech-Giganten im Globalen Norden, die Infrastruktur, Software und Plattformen kontrollieren, und Staaten sowie Communities im Globalen Süden, die oftmals die materiellen und immateriellen Ressourcen bereitstellen: Rohstoffe, Arbeitskraft, digitale Inhalte, Daten.

Diese Machtverhältnisse manifestieren sich in einer Vielzahl digitaler Praktiken – vom extraktiven Umgang mit Daten bis zur Auslagerung prekärer Arbeit. Die gängige Erzählung einer „grünen“, „neutralen“ und „fortschrittlichen“ Digitalisierung verschleiert diese Abhängigkeitsverhältnisse. Tatsächlich ist die Entwicklung und Anwendung von KI eng mit politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Interessen verknüpft – und trägt so zur Festigung globaler Ungleichheiten bei.

Ausbeutung und Abhängigkeit im digitalen Zeitalter

Künstliche Intelligenz ist Teil eines wirtschaftlichen Systems, das bestehende Ungleichheiten oft verstärkt. Besonders im Globalen Süden entstehen neue Formen digitaler Ausbeutung. Menschen arbeiten unter prekären Bedingungen in Rohstoffminen, um Materialien wie Lithium oder Kobalt für digitale Geräte bereitzustellen. Dabei leiden sie unter Gesundheitsrisiken, Umweltzerstörung und fehlender sozialer Absicherung – ohne nennenswerte Beteiligung an den Profiten dieser Technologien.

Hinzu kommt eine zweite, weniger sichtbare Form der Ausbeutung: Die Trainingsdaten für KI-Systeme müssen von Menschen strukturiert und moderiert werden. Viele dieser Aufgaben – z. B. das Sichtens und Klassifizieren von problematischen Inhalten – werden an schlecht bezahlte Klickarbeiter*innen in Ländern wie Kenia, den Philippinen oder Indien ausgelagert. Diese Arbeit ist psychisch belastend, wird aber kaum anerkannt oder geschützt. So profitieren Konzerne von den niedrigen Löhnen und schwachen Arbeitsrechten im Globalen Süden.

Neben diesen direkten Ausbeutungsverhältnissen führt die globale Struktur der Digitalisierung zu tiefgreifenden Abhängigkeiten. Die digitale Infrastruktur – von Unterseekabeln bis zu Rechenzentren – liegt fast vollständig in der Hand großer Tech-Konzerne des Globalen Nordens. Auch der Zugang zu Technologien, Plattformen und digitalem Know-how ist ungleich verteilt. Staaten des Globalen Südens bleiben oft reine Nutzer, ohne eigene Souveränität über Daten oder Systeme zu entwickeln.

Diese asymmetrische Verteilung zeigt sich auch in den ökologischen Folgen: Die Klimabilanz von KI-Systemen ist dramatisch. Der Energie- und Wasserverbrauch beim Training großer Modelle ist immens – während die klimapolitischen Konsequenzen, etwa Ernteausfälle oder Wassermangel, besonders jene Regionen treffen, die kaum an der technologischen Wertschöpfung beteiligt sind. Zwar fallen die Energiekosten überwiegend im Globalen Norden an, doch die Folgen des Klimawandels treffen vor allem den Süden. Die digitalen Fortschritte des Nordens verstärken so die Krisen des Südens – und führen uns zurück zu alten Fragen von Verantwortung und globaler Gerechtigkeit.

Datenextraktivismus und technologische Bevormundung

Daten gelten als das „neue Öl“ der digitalen Ökonomie. Doch wer profitiert davon? Oft werden Daten aus dem Globalen Süden abgeschöpft, ohne dass die Menschen vor Ort Einfluss auf deren Verwendung haben. Konzerne extrahieren Informationen, monetarisieren sie und behalten die Kontrolle. Ähnlich wie bei klassischen Rohstoffen entsteht so eine digitale Abhängigkeit. Politisch problematisch wird es, wenn Handelsabkommen und Lobbyismus verhindern, dass Staaten eigene Datenschutzregeln durchsetzen oder Daten lokal speichern können.

Zudem bringt Digitalisierung nicht nur Technik, sondern auch Deutungsmacht. In der Landwirtschaft etwa werden KI-gestützte Systeme eingeführt, die lokales Wissen verdrängen. Bäuer*innen werden von globalen Plattformen abhängig, erhalten Empfehlungen durch Algorithmen statt durch Erfahrungen der älteren Generation. Das ist nicht nur ein Verlust an Vielfalt, sondern auch ein Beispiel dafür, wie technologische „Lösungen“ kulturelle und gesellschaftliche Strukturen überlagern können.

Europas Rolle: Zwischen Anspruch und Realität

Europa präsentiert sich gerne als „ethische Supermacht“ in Digitalfragen. Der AI Act setzt zwar wichtige Standards, gleichzeitig werden wirtschaftliche Interessen in den Vordergrund gestellt. Programme wie „Global Gateway“ sollen digitale Infrastruktur im Globalen Süden fördern, folgen aber häufig geopolitischen Motiven. Auch hier zeigt sich: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft eine Lücke.

Wege zu mehr digitaler Gerechtigkeit

Digitale Gerechtigkeit lässt sich nicht allein durch technologische Innovationen herstellen. Vielmehr braucht es strukturelle Veränderungen auf politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene. Die folgenden Handlungsfelder sind zentral:

1. Verbindliche ethische Standards und internationale Regulierung
Es braucht globale Abkommen, die Prinzipien wie Transparenz, Fairness und Mitbestimmung weltweit verankern – etwa auf Basis der UN-Principles on Business and Human Rights oder von Data-Justice-Konzepten.

2. Souveränität im Umgang mit Daten und Infrastruktur stärken
Staaten und Communities im Globalen Süden müssen eigene digitale Ökosysteme aufbauen können – durch lokale Server, unabhängige Clouds, eigene Standards und langfristige Kapazitätsentwicklung.

3. Faire Arbeitsbedingungen in der digitalen Ökonomie
Digitale Lieferketten müssen menschenrechtlich überprüfbar werden. Dazu gehören faire Löhne, soziale Absicherung und psychologische Betreuung für Clickworker*innen weltweit.

4. Umweltschutz als Teil digitaler Verantwortung
Die Klimakosten von KI müssen internalisiert werden. Energieeffizienz, nachhaltiges Design und Kompensationsmechanismen für betroffene Regionen sind dringend notwendig.

5. Entwicklungspartnerschaften auf Augenhöhe
Statt technologische Abhängigkeiten zu schaffen, müssen Partnerschaften lokale Innovation, Bildung und demokratische Teilhabe fördern.

Zwischen Kritik und Alltag: Verantwortung übernehmen

Was bedeutet das konkret für uns als KI-Nutzer*innen? Verantwortung zu übernehmen, heißt nicht, Innovation abzulehnen, sondern sich mit den gesellschaftlichen Folgen der Technologie auseinanderzusetzen. Das beginnt im Kleinen: Nutzer*innen können beispielsweise darauf achten, welche Anwendungen sie verwenden, wie viel energieintensive Prozesse wie Bild- oder Textgenerierung sie in Anspruch nehmen und welche Anbieter dahinterstehen.

Ein wichtiger erster Schritt ist zudem, sich mit der eigenen digitalen Umgebung vertraut zu machen. Nur wer weiß, wo und in welcher Form KI bereits im Alltag integriert ist – etwa in Suchmaschinen, sozialen Netzwerken, Sprachassistenten, Übersetzungsdiensten oder im Online-Shopping –, kann informierte Entscheidungen darüber treffen, ob und wie diese Technologie genutzt werden soll.

Konkret bedeutet das:

  • KI bewusst und gezielt einsetzen: Nicht jede alltägliche Aufgabe muss durch KI automatisiert werden. Menschliches Urteilsvermögen bleibt oft sinnvoller – besonders in sensiblen Kontexten wie Pädagogik oder Beratung.
  • Transparenz schaffen: Inhalte, die mit Hilfe von KI entstanden sind, sollten offen gekennzeichnet werden – besonders in Bildung, Medien oder öffentlichen Debatten.
  • Anbieter kritisch prüfen: Welche Firma steckt hinter der Technologie? Unter welchen Bedingungen wurde sie entwickelt? Woher stammen die Trainingsdaten?
  • Datensparsam handeln: Je weniger personenbezogene Daten weitergegeben werden, desto geringer das Risiko von Missbrauch. Es lohnt sich, Alternativen mit hoher Datensouveränität zu bevorzugen.
  • Ressourcen schonen: Das Training großer KI-Modelle erfordert erhebliche Mengen an Energie und Wasser. Bewusste Nutzung bedeutet auch, aufwendige Prozesse (wie das Erstellen vieler Bilder oder Videos) zu hinterfragen.

Verantwortung zu übernehmen, heißt auch, sich über die eigene Rolle als Konsumentin, Nutzerin oder Multiplikator*in bewusst zu werden – und gegebenenfalls Einfluss zu nehmen: durch Feedback, durch politischen Druck oder durch solidarisches Handeln.

Bildung als Schlüssel zum kritischen Umgang mit KI

Bildungsarbeit ist ein zentraler Hebel für eine gerechte digitale Gesellschaft. Sie schafft nicht nur Zugang zu Reflexion, Austausch und Empowerment, sondern hilft auch dabei, das digitale Umfeld besser zu verstehen. Denn wer nicht weiß, wo und wie KI bereits im Alltag integriert ist, kann auch keine fundierten Entscheidungen über deren Nutzung treffen. Bildungsarbeit ermöglicht es, Mechanismen zu erkennen, KI-gestützte Systeme zu identifizieren und deren Funktionsweise kritisch zu hinterfragen. Sie unterstützt Menschen dabei, zwischen sinnvoller Nutzung und potenziell problematischem Einsatz zu unterscheiden – und fördert so digitale Mündigkeit und Selbstbestimmung.

1. Kritisches Bewusstsein fördern
KI muss als gesellschaftliches und politisches Thema begriffen werden. Bildungsangebote sollten die Entstehungsbedingungen von KI transparent machen und Machtverhältnisse offenlegen.

2. Perspektivwechsel ermöglichen
Globale Ungleichheiten werden oft nicht gesehen. Bildungsarbeit muss gezielt Stimmen und Perspektiven aus dem Globalen Süden einbinden.

3. Gestaltungs- und Mitbestimmungskompetenz aufbauen
Menschen brauchen praktische Fähigkeiten zur Nutzung, Bewertung und Gestaltung digitaler Systeme. Dazu zählen Datenkompetenz, Prompting-Fähigkeiten und rechtliches Wissen.

4. Vielfalt sichtbar und nutzbar machen
Digitale Bildung muss inklusiv sein. Dazu gehören barrierefreie Materialien, Leichte Sprache, diskriminierungssensible Inhalte und Schulungen für Lehrende.

5. Ethische und emotionale Dimensionen thematisieren
Technik ist nicht neutral. Bildungsarbeit sollte die ethischen Fragen und emotionalen Wirkungen digitaler Technologien erfahrbar und diskutierbar machen.

Was wäre digitale Gerechtigkeit?

Digitale Gerechtigkeit heißt nicht nur Zugang zu Technik, sondern auch faire Arbeitsbedingungen, Datensouveränität, kulturelle Selbstbestimmung und Klima- sowie Ressourcengerechtigkeit. KI ist politisch. Und ihre Nutzung ist eingebettet in globale Zusammenhänge.

Dieser Fachbeitrag entstand in Folge eines Online-Talks mit dem Autor des Buches „Digitaler Kolonialismus“ Ingo Dachwitz im Rahmen des Projekts „AI Impact – Wir mit KI“ und wurde von Tobias Albers-Heinemann und Lukas Spahlinger verfasst.

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