Prüfungen sind seit jeher zentraler Bestandteil des Bildungssystems – sie sollen Wissen und Fähigkeiten sichtbar machen, vergleichen und bewerten. Doch mit dem Aufkommen generativer KI geraten diese Funktionen ins Wanken. Sprachmodelle können Aufgaben wie Recherchieren, Zusammenfassen oder Ausformulieren schneller und präziser lösen als viele Lernende. Lehrende wie auch Studierende fragen sich: Wie ernstzunehmend sind Prüfungsleistungen noch, wenn KI sie unterstützen oder sogar übernehmen kann? Und wie lässt sich sicherstellen, dass Lernende tatsächlich Kompetenzen erwerben?
Klassische Prüfungsformate unter Druck
Essays oder Hausarbeiten geraten durch den Einsatz von KI zunehmend an ihre Grenzen. Mit wenigen Eingaben lassen sich heute komplette Texte generieren, was nicht nur Eigenständigkeitserklärungen fragwürdig erscheinen lässt, sondern vor allem die Frage aufwirft, ob solche Aufgaben den Bildungsansprüchen noch gerecht werden. Lehrende sehen darin unterschiedliche Herausforderungen: Während die einen vor allem einen Verlust an Glaubwürdigkeit und die Gefahr von Täuschungen betonen, verweisen andere darauf, dass Studierende meist dann KI einsetzen, wenn Aufgaben wenig Sinn stiften oder Zeitdruck überwiegt. Prüfungen müssen daher neu bestimmen, ob sie bloße Wissensabfrage meinen oder ob sie Kompetenzen wie kritisches Denken, Urteilsvermögen und den reflektierten Einsatz von KI ins Zentrum stellen.
Neue Anforderungen an Prüfungen im KI-Zeitalter
Wenn generative KI Routinetätigkeiten übernimmt, verschiebt sich der Fokus auf andere Kompetenzen: die kritische Bewertung von Quellen, die Fähigkeit, Informationen einzuordnen, und die Entwicklung eigener Urteilsfähigkeit. Ebenso zentral wird der reflektierte Umgang mit KI. „AI Literacy“ bedeutet nicht nur, Prompts zu formulieren, sondern auch Grenzen zu erkennen und Ergebnisse kritisch zu prüfen.
Damit verbunden ist die Gefahr des „Skill Skipping“: Lernende überspringen Lernprozesse, weil KI Aufgaben schneller erledigt, noch bevor ein grundlegendes Verständnis aufgebaut wurde. Hier braucht es eine Balance. Basiskompetenzen – wie strukturiertes Argumentieren, die Fähigkeit, Texte selbst zu gliedern, oder Grundlagen mathematischen Denkens – dürfen nicht verloren gehen. Prüfungen müssen also sichtbar machen: eigenständiges Arbeiten, den Aufbau und die Anwendung grundlegender Basiskompetenzen sowie den verantwortungsvollen Umgang mit KI.
Ein weiterer Punkt ist die Fairness. Nicht alle Lernenden haben denselben Zugang zu leistungsfähigen Tools. Unterschiede in Ausstattung und Medienkompetenz können bestehende Ungleichheiten vertiefen. Gleichzeitig wächst die Angst, fälschlich beschuldigt zu werden, KI genutzt zu haben. Verschärft wird dies dadurch, dass viele Lehrende auf KI-Detektionstools vertrauen, die jedoch nachweislich unzuverlässig sind. Sie liefern oft fehlerhafte Ergebnisse, was zu falschen Anschuldigungen und unfairer Benotung führen kann. Das zeigt: Auch Lehrende benötigen zunächst KI-Kompetenz, um mit KI-generierten Arbeiten fundiert umgehen zu können. Prüfungen müssen deshalb auf Transparenz setzen und faire Rahmenbedingungen schaffen.
Lösungsansätze: Prüfungen neu denken
Die aktuellen Entwicklungen sind eine Chance, Prüfungen grundlegend weiterzuentwickeln. Das derzeitige Bildungs- und Prüfsystem ist bereits viele Jahrzehnte alt und stößt an seine Grenzen: Verbote oder bloße Reglementierungen reichen nicht mehr aus, um mit digitalen Veränderungen Schritt zu halten. Deshalb ist es unabdingbar, Prüfungsformate und Methoden grundlegend zu verändern. Im Folgenden werden vier zentrale Ansätze vorgestellt, die als Leitlinien dienen können, wie Prüfungen neu gedacht und umgesetzt werden können:
- Projektbasiertes Lernen und Prüfen: Reale, komplexe Problemstellungen können im Mittelpunkt stehen. Projekte, die fachübergreifend angelegt sind, fördern Zusammenarbeit, Kreativität und Problemlösungskompetenz. In Prüfungen lassen sich so nicht nur Ergebnisse, sondern auch die Fähigkeit bewerten, Wissen in neuen Kontexten anzuwenden.
- Prozessorientiertes Prüfen: Prüfungen müssen den Lernprozess stärker einbeziehen. Feedback-Schleifen, Peer-Reviews oder Lernjournale eröffnen Einblicke in Denkwege und Strategien. Das Ergebnis zählt, aber ebenso die Entwicklung dahin. So wird sichtbar, welche Kompetenzen aufgebaut wurden, auch wenn das Endprodukt nicht perfekt ist.
- Integration von KI ins Prüfungssetting: Statt KI zu verbieten, könnte sie Teil der Prüfung sein. Lernende dürfen Tools nutzen – jedoch mit der Verpflichtung, den Einsatz offenzulegen und kritisch zu reflektieren. Prüfungen könnten so nicht nur den fachlichen Output bewerten, sondern auch den verantwortungsvollen und transparenten Umgang mit KI.
- Mündliche und kontextbezogene Prüfungen: Auch stärker mündlich geprägte Formate, Verteidigungen oder Präsentationen bieten Chancen. Sie ermöglichen Lernenden, ihre Arbeit zu erläutern und zu reflektieren. Aufgaben mit persönlichem oder regionalem Bezug können KI-Einsatz erschweren und zugleich authentische Lerngelegenheiten schaffen.
Perspektive: Prüfungen als Lerngelegenheiten
Wenn Prüfungen mehr sein sollen als Kontrolle, müssen sie als Lerngelegenheiten gestaltet werden. Sie sollten nicht Defizite aufzeigen, sondern Lernfortschritte würdigen. Prüfungen können dann Räume sein, in denen Lernende Selbstwirksamkeit erfahren – weil sie ihre Fähigkeiten zeigen und reflektieren können. Dabei geht es stärker um Lernbegleitung und individuelle Lernwege als um das starre Format einer klassischen Abschlussarbeit.
Transferleistungen und mündliche Begleitung müssen stärker in den Vordergrund treten, was selbstverständlich auch strukturelle Veränderungen in den Bildungseinrichtungen erfordert. Institutionell erfordert dies Anpassungen von Curricula, Prüfungsordnungen und rechtlichen Rahmenbedingungen. Doch der Gewinn ist groß: Prüfungen werden zu Spiegeln des Lernens, die nicht klein machen, sondern stärken.
Prüfungen müssen sich verändern!
Prüfungen im Zeitalter von KI sind nicht überflüssig – doch sie müssen sich grundlegend verändern. Der Weg führt weg von der reinen Wissensreproduktion hin zu Formaten, die Basiskompetenzen sichern, kritisches Denken fördern und den reflektierten Umgang mit KI einbeziehen. Projektbasiertes, prozessorientiertes und kontextbezogenes Prüfen eröffnet hier neue Perspektiven. Prüfungen können so zu Räumen werden, die nicht klein machen, sondern stärken: Sie fördern Urteilskraft, Kreativität und Verantwortung – und damit genau jene Fähigkeiten, die Menschen in einer sich wandelnden Welt resilient und handlungsfähig halten.